Artikel 28 - Wir sind dran - Was wir ändern müssen, wenn wir bleiben wollen!
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Einleitung
Dieser Artikel ist wiederum gänzlich anders als die bisherigen Artikel. Es handelt sich dabei um die Abschrift eines Interviews, das der Radiosender Ö1 mit Ernst Ulrich von Weizsäcker geführt hat und das am DO/FR 4./5.10. im Radiosender Ö1 in der Sendungsreihe „Im Gespräch“ gesendet wurde.
Warum bringen wir ein Interview als Future-Aid-Artikel?
Ernst Ulrich von Weizsäcker ist einer der weltweit angesehensten Experten, im Hinblick darauf was die Menschheit tun muss, um die Probleme Klimawandel und Nachhaltigkeit zu lösen. Was Weizsäcker in diesem Interview sagt, deckt sich fast vollständig mit den Ideen und Überzeugungen von Future Aid – wir könnten es nicht besser sagen. Von Weizsäcker spricht über Nachhaltigkeit. Nachhaltigkeit umfasst mehr als Klimawandel und Klimaschutz. Future Aid konzentriert sich derzeit auf das Thema Klimawandel. Sobald wir unsere Artikel zum Klimawandel veröffentlicht haben, wollen wir uns den vielen anderen Themen widmen, die sich mit Nachhaltigkeit beschäftigen. So gesehen ist dieses Interview und das darin erwähnte Buch - „Wir sind dran“ - ein Vorgriff auf die Themen, zu denen Future Aid in Zukunft schreiben will. Um die Verbindungen mit Future Aid aufzuzeigen, haben wir in Fußnoten etliche Teile des Interviews kommentiert. In der Webversion fügen wir Kommentare in den Text ein – sie sind an der kursiven Schreibweise erkennbar!
Wer ist Ernst Ulrich von Weizsäcker und wer ist der Club of Rome?
Ernst Ulrich von Weizsäcker *1939 stammt aus einer der bekanntesten deutschen Wissenschaftler- und Politikerfamilien. Um sein Wirken und Engagement zu verstehen, ist sein familiärer Hintergrund wichtig:[1]
Einige der wichtigsten Stationen von Ernst Ulrich von Weizsäcker:
Der Club of Rome:[7]
Wir von Future Aid sehen den Club of Rome als das „Gewissen der Welt“ weil sich keine andere Organisation so umfassend mit weltweiten Zukunftsfragen beschäftigt![10]
Das Interview[11][12]
Obrecht: „20 Jahre nach dem Erscheinen des berühmten Club of Rome Berichtes „Die Grenzen des Wachstums“ fand 1992 in Rio de Janeiro der Erdgipfel der Vereinten Nationen statt bei dem sie - Ernst Ulrich von Weizsäcker - die deutsche Regierung vertreten haben. Bei dieser Konferenz wurde Konsens darüber erzielt, dass sich die soziale und ökologische Sphäre nicht trennen lässt, dass ökologische Probleme nur gelöst werden können, wenn damit auch soziale Probleme gelöst werden. Auch bei dem 10 Jahre später stattfindenden Weltgipfel in Johannesburg haben Sie in Ihrer Funktion als Mitglied des Beirates der Vereinten Nationen mitgewirkt und wieder 10 Jahre später im Jahr 2012 hat die UN Konferenz Rio Plus 20 stattgefunden. Bei der ging es vor allem um die Green Economy oder auch stark um die Green Economy als Hebel für die sozialökologische Transformation und das war auch das Jahr als Sie Co-Direktor des Club of Rome geworden sind. Wenn Sie vor Ihrem geistigen Auge diese Konferenzlandschaft, diese Konferenzrhetorik, auch diese weltweiten Bemühungen Revue passieren lassen, tut sich da nicht eine enorme Kluft auf zwischen Rhetorik, Absichtserklärung und tatsächlicher Realisierung der Konferenzziele?“
Weizsäcker: „Ja, selbstverständlich. Bei den Konferenzen wird auch vieles gesagt, was nicht realistisch ist. Trotzdem sind diese Konferenzen außerordentlich notwendig und gut. Es ist sozusagen das Gegenprogramm, von dem was der gegenwärtige amerikanische Präsident Donald Trump predigt, dass die Länder automatisch miteinander in permanenter bösartiger Rivalität stünden. Um diesen kämpferischen Quatsch zu überwinden, braucht man die Vereinten Nationen und die verschiedenen Konferenzen und es hat sich ja auch einiges getan.
[13] Weizsäcker spricht hier die erste elementare Wahrheit aus. Die heutigen Probleme – insbesondere der Klimawandel, weil er keine Grenzen kennt – können nur durch mehr internationale Zusammenarbeit gelöst werden, anstatt durch weniger!
In den 1970er Jahren hat man angefangen, auf Weltebene das Thema Umwelt ernst zu nehmen. Kurz darauf hat dann die Europäische Union die entsprechenden Verordnungen und Richtlinien beschlossen und einiges ist in Europa sehr viel besser geworden. Aber das hat nicht genügt. Vor allem der Süden, die Entwicklungsländer sagen das Wort Umwelt, das ist was für die Reichen. Und Indira Gandhi, im Jahr 1972 Ministerpräsidentin von Indien hat gesagt: „Poverty is the biggest polluter.“ Die Armut ist der größte Verschmutzer. Und meinte damit, naja den teuren Umweltschutz können sich ja nur die Reichen leisten, die Armen nicht.
[14] Die zweite elementare Wahrheit besteht darin, dass wir die armen Teile der Welt ökonomisch in die Lage versetzen müssen, Umweltschutz überhaupt zu betreiben. Die größten Anstrengungen gegen den Klimawandel in den westlichen Industrieländern reichen nicht aus, wenn z.B. Indien massiv Kohlekraftwerke ausbaut oder Afrika und Südamerika massiv Wald abholzen.
Und deswegen müssen wir dafür sorgen, dass die Armen reich werden. Dann ist die Welt wieder in Ordnung und das war das Grundmotto dann für 1992 Rio de Janeiro, das haben Sie grad richtig erwähnt.“
Obrecht: „Die Hebung des globalen Wohlstandes, die in den letzten Jahrzenten stattgefunden hat, und zwar in einem erstaunlichen Ausmaß, was alle Indikatoren betrifft - Einkommen aber auch Lebenserwartung und Gesundheit und Bildung und so weiter - trägt auch dazu bei, dass wir uns an den Grenzen des Wachstums und an der Grenze der ökologischen Möglichkeiten befinden.“
Weizsäcker: „Das war insbesondere in Rio de Janeiro das große Thema. Ein wie es schien unausweichlicher Konflikt zwischen menschlichem Wohlstand, einschließlich menschlicher Vermehrung und stabiler Umwelt.
[15] Die dritte elementare Wahrheit besteht darin, dass wir bei dem gegebenen Bevölkerungswachstum – das natürlich zu ständig mehr Energienachfrage führt – in Zukunft Wohlstand nicht auf dieselbe Art und Weise schaffen können wie bisher ohne die Umwelt zu zerstören.
Ein richtiger Konflikt. Und das hat dann dazu geführt, dass viele Leute gedacht haben, also wenn das ein dauerhafter Konflikt ist, dann kommen wir ja nirgends hin. Wir müssen den Konflikt überwinden und das war dann der Ansatz, der sogenannten Grünen Ökonomie, die das Hauptmotto von dem Bericht „Rio Plus 20“ war.“
Obrecht: In diesem Bericht „Rio Plus 20“, den Sie jetzt ansprechen, wird davon gesprochen, dass bereits eine Investition von 2% des globalen Bruttoinlandsproduktes eine wesentliche Investition in den Wandel hin zur sozialökologischen Transformation wäre, also zu einer CO2-armen und ressourceneffizienten Wirtschaft. Und Sie haben in einem Buch, in einem Bericht an den Club of Rome, der 2010 aufgelegt wurde - unter dem Titel „Faktor Fünf“ - Konzepte und Strategien für nachhaltiges Wirtschaften vorgestellt. Wo Sie davon ausgehen, bzw. beweisen - das wäre jetzt eben die Frage - dass Wohlstand sehr wohl mit einem Fünftel der derzeit eingesetzten Energie und der derzeit eingesetzten Rohstoffe erzeugt werden kann. Um welchen Wohlstand handelt es sich da? Und wie würde sich dieser Wohlstand, von dem Sie hier schreiben, von dem unterscheiden, was wir heute unter Wohlstand verstehen?“
Weizsäcker: „Das war eigentlich ein konventioneller Begriff von Wohlstand. Wir haben die vier - in Bezug auf Ressourcen wichtigsten Teile unserer Wirtschaft - unter die Lupe genommen. Das Bauwesen, also unsere ganzen Gebäude (Fabriken eingeschlossen), den Verkehr, die Industrie und die Landwirtschaft. Und bei allem haben wir selbstverständlich unterstellt, dass deren Hauptmotiv die Schaffung und Sicherung von Wohlstand ist, in einem ganz konventionellen Sinn. Und dann haben wir ebenfalls ganz konventionell angeschaut ja wie viel Energie braucht man eigentlich z.B. für gemütliches Wohnen in kalten Ländern im Winter. Und die damalige Bausubstanz war katastrophal. Da stammte die Philosophie aus den 50er, 60er Jahren, als die Energie praktisch nichts gekostet hat. Und da zog es aus allen Winkeln und man brauchte gigantische Heizleistungen. Und dann aber wurde das so genannte Passivhaus entwickelt, was es in Österreich inzwischen ja auch in großer Zahl gibt. Das etwa 10-mal weniger Heizmaterial braucht für sehr angenehme Wärme. Ein Beispiel in dem Buch Faktor Fünf.“
[16] Die vierte elementare Wahrheit ist, dass wir den heutigen Wohlstand mit deutlich weniger Energieverbrauch erreichen müssen als bisher. Dass dies möglich ist, weiß man schon lange. Weil wir heute noch immer Öl, Kohle und Gas subventionieren – das heißt keinen Preis für die Klimazerstörung berechnen – gibt es zu wenig Anreize die Möglichkeiten der Energieeffizienz zu nutzen.
Obrecht: „Wir glauben ja immer, dass wir höchst effizient Dienstleistungen und Produkte produzieren und auf den Markt werfen. Das Buch illustriert in sehr interessanter und genauer Weise, dass dem nicht so ist. Produzieren wir aber unsere Produkte effizienter - auch in Bezug auf den Energieverschleiß und Ressourcenverbrauch dann ergibt sich so etwas wie ein so genannter „Reboundeffekt“[17], wodurch dann viel an Innovation wieder aufgehoben wird. Gibt’s ein Konzept diesem Reboundeffekt zu begegnen, effektiv zu begegnen?“
Weizsäcker: „Normalerweise, in der Sprache der Wirtschaftszeitungen, nennt man das nicht Reboundeffekt, sondern Wachstum. Wachstum, Wachstum, Wachstum. Und das wollen alle! Und da kommt man nicht mit dem hässlichen englischen Wort Rebound. Das würde ja die Schönheit auf einmal zerstören.“
Obrecht: „Hauptsache mehr!“
Weizsäcker: „Hauptsache mehr! Und man kann also sagen, die Wirtschaftspolitik aller Länder der Welt ist darauf ausgerichtet, dass wenn es irgendwo Wachstumsspielräume gibt, die sofort genutzt werden für mehr Wachstum. Auch wenn das bedeutet, dass es mit der Artenvielfalt auf der Welt, mit dem Klima auf der Welt, mit der Bodenqualität auf der Welt usw. immer schlimmer wird. Das ist der eigentliche Reboundeffekt. Die Effizienzgewinne werden alle wieder aufgefressen durch zusätzlichen Konsum und das ist Absicht. Das ist nicht ein hässlicher Nebeneffekt, sondern das ist Absicht der Wirtschaftspolitik in allen Ländern der Welt.“
[18] Die fünfte elementare Wahrheit besteht darin, dass weltweit von nahezu allen Regierungen Wirtschaftswachstum nach wie vor als Lösung für viele Probleme gesehen wird (Armut, Arbeitslosigkeit, etc.), obwohl längst klar ist, dass unbegrenztes Wachstum auf einem begrenzten Planeten nicht möglich ist. Im Gegenteil hat das Wirtschaftswachstum der letzten Jahrzehnte erst das Problem des Klimawandels hervorgebracht und weder Arbeitslosigkeit besiegt, noch die Ungleichheit in den entwickelten Ländern zwischen armen und reichen Menschen verringert, noch die Kluft zwischen entwickelten und unterentwickelten Ländern verringert.
Obrecht: „Sie haben jetzt ganz zentrale Probleme, ausdrücklich angesprochen. Die Artenvielfalt bzw. die Bedrohung der Artenvielfalt, den Klimawandel, die Ressourcenvergeudung, die Entwaldung, die extreme Armut und, und, und. Die Liste ist lang! Sie gehören trotz dieser Bedrohungsszenarien, trotz dieser immensen Probleme doch eher zu der optimistischen Seite. Woher schöpfen Sie den Optimismus? Wenn man Sie liest - wenn ich das so sagen darf - dann sieht man einen Professor Weizsäcker, der doch daran glaubt, das mit einiger Vernunft - wie die aussehen könnte, darüber werden wir noch sprechen - ein nachhaltiges sozialökonomisch und weltverträgliches Zusammenleben möglich wäre.“
Weizsäcker: „Nun man hat mich Naturwissenschaften studieren lassen. Erst Physik bis zum Diplom und dann Biologie, wo ich sogar Professor geworden bin. Und in den Naturwissenschaften lernt man, wie man ein objektives Problem nachweislich lösen kann. Und wenn ich sehe, dass z.B. die Böden kaputt gehen wegen gigantischer Mengen giftiger Agrarchemikalien dann sage ich mir: “Ja dann müssen wir halt sehen dass das Pflanzenwachstum und unser agrarischer Wohlstand mit sehr viel weniger Gift organisiert werden kann und das ist natürlich naturwissenschaftlich möglich.
[19] Die sechste elementare Wahrheit ist, dass für viele der heutigen Probleme - zumindest jedoch für den Klimawandel – bereits alle technischen Möglichkeiten vorhanden sind, um die Erderwärmung bei 2 Grad zu begrenzen. Es muss nichts erst erfunden werden, um Handeln zu können. Was fehlt, ist der politische Wille entschlossen zu handeln.
Also wer als Naturwissenschaftler ein reiner Pessimist ist der hat wahrscheinlich keine guten Augen und ich hoffe, ich habe einigermaßen gute Augen.“
Obrecht: „Sie sind aber nicht nur Naturwissenschaftler, Sie sind auch Politiker, Sie sind auch Umweltaktivist, Sie sind Autor, sehr produktiv schreibender Autor. Sie vereinen also unterschiedliche Felder. Als Biologe waren Sie Direktor des Institutes für Europäische Umweltpolitik in Bonn, des Wuppertaler Institutes für Klima-Umwelt-Energie und als Politiker von 1998 bis 2005 auch Mitglied des Deutschen Bundestages. Das sind sehr unterschiedliche professionelle Felder und ich gehe mal davon aus, dass es sehr unterschiedliche Rationalitäten sind, die da in diesen Feldern eine Rolle spielen. Ist es nicht so das die Politik in extrem kurzen Zeiten und Realisierungshorizonten denkt und handelt und dass das wirklich ein ganz massives Problem darstellt?“
Weizsäcker: „Ja da gibt es Schwierigkeiten und die sind schlimmer geworden in den letzten fünf Jahren. Als ich als junger Mann vor über fünfzig Jahren der SPD beigetreten bin, war die Politik noch ausgesprochen langfristig orientiert. Da hat man sich für den Wiederaufbau von Deutschland in einem langfristigen Sinne interessiert. Man hat gerade etwa zu der Zeit die Entwicklungshilfe neu entdeckt, als wichtiges moralisches und ökonomisches Thema und die Bildungsrevolte - wir waren damals revoltierende Studenten und haben uns geärgert das nur 6% des Altersjahrgangs überhaupt in die Hochschulreife kommen. Das fanden wir skandalös und das ist alles korrigiert worden. Da war die Politik noch weitestgehend rational und langfristig. In den letzten 5 Jahren ist durch Facebook, Twitter - insgesamt die sozialen Medien - eine Art von Wutverbreitung in die Politik gekommen. Es gibt eine empirische Studie, dass die Verbreitungsgeschwindigkeit von Gemeinheit, Wut, Zerstörungssucht 10-mal so groß ist wie die Verbreitungsgeschwindigkeit von Vernunft. Und dann soll man sich nicht mehr wundern, dass die Politik auf einmal wuterfüllt ist unter dem Druck der sozialen Medien. Die sind alles andere als sozial, es sind eigentlich asoziale Medien und dagegen müsste man eigentlich inhaltlich und politisch angehen. Wir merken, dass der heutige Populismus mit seiner Wutkomponente eine Antipolitik ist.“
[20] Die siebente elementare Wahrheit ist, dass die Politik tendenziell immer kurzfristiger denkt und immer weniger auf Konsens ausgerichtet ist sondern mehr auf Konfrontation. Dies hat den Populismus sehr gefördert, weil Populismus – das liegt im Wesen des Populismus – das tut was den Menschen kurzfristig gefällt, ohne an die langfristigen Folgen zu denken. Immer mehr Länder in der EU stellen sich gegen die Gemeinschaft der sie angehören und gehen auf Konfrontation: Großbritannien mit dem Brexit, Polen und Ungarn die Entscheidungen der EU einfach ignorieren. Italien dessen Regierung auf Konfrontation zur EU geht, um innenpolitisch mehr Zustimmung zu bekommen. Die zunehmenden weltweiten Handelskonflikte, die Donald Trump vom Zaun bricht. Die Sozialpartnerschaft in Österreich, die immer weniger soziale Konflikte im Konsens löst. Die Liste ließe sich beliebig lang fortsetzen.
Obrecht: „Hängt diese Verkürzung des politischen Handlungsspielraums auch mit dem Primat der Ökonomie, mit dem Primat des Neoliberalismus zusammen?“
Weizsäcker: „Ja und nein! Gute Ökonomie ist eigentlich auch langfristig gemeint, aber nach 1990, nach dem Fall der Berliner Mauer, nach dem Zusammensturz der Sowjetunion hat sich die westliche Wirtschaftsphilosophie dramatisch verändert, und zwar verschlechtert, in Richtung Kurzfrist. Früher als es den bösen Kommunismus gab, da war es im Interesse des Kapitals, der Reichen sich mit dem Staat einigermaßen gütig zu arrangieren und zu akzeptieren, dass die Steuern eine Umverteilungsmaschine von Reich zu Arm sind. Das haben die zwar nicht gerne gemocht, aber sie haben es toleriert, weil der Staat das Bollwerk gegen den bösen Kommunismus war. Aber als der Kommunismus weg war, hatten sie keinen Anlass mehr sich um den Staat zu kümmern und fingen an den Staat zu erpressen in Richtung Kurzfristigkeit, in Richtung Steuersenkung für die Reichen, in Richtung Abbau der sozialen Sicherung und so weiter und so weiter in praktisch allen Ländern der Welt.“
[21] Die achte elementare Wahrheit ist, dass durch die neoliberale Wirtschaftspolitik - die seit etlichen Jahrzehnten vorherrschend ist – der Einfluss des Staates zulasten der freien Wirtschaft zurückgedrängt wurde. Mit dem Klimawandel habe wir jetzt aber ein Problem, das die Wirtschaft allein nicht lösen kann, das nur durch einen starken Staat der entschlossen eingreift (Gesetze, Regelungen, etc.) gelöst werden kann.
Obrecht: „Das heißt der Staat, der auch ein Garant war, für die Ideologie gegen den Kommunismus wird zum Feind, in dem Moment, wo er versucht, durch Steuern und andere Politiken Reichtum und Wohlstand umzuverteilen.“
Weizsäcker: „Und das vollkommen Närrische ist, dass das Volk so blöd ist, die Schuld daran dem Staat zu geben und nicht dem Kapital, das den Staat erpresst hat. Das heißt also der Staatshass, der heute ein Dauerthema bei den Populisten ist, ist eine Denkfaulheit, Denkdummheit, die die heutige Situation - die uns alle natürlich ärgert - herbeigeführt hat.
[22] Die neunte elementare Wahrheit ist – auch wenn wir es nicht gerne hören – dass diese Entwicklungen nicht im Verborgenen geschehen sind, sondern vor unseren Augen. Wir können uns nicht darauf ausreden wir hätten das alles nicht erkennen können. Obwohl heute große Teile der Bevölkerung eine bessere Schulbildung haben und obwohl der Zugang zu Medien und Informationen heute so einfach wie noch nie ist, beschäftigen sich große Teile der Bevölkerung nicht wirklich mit Politik. Wenn erwachsene Menschen ihre gesellschaftliche Verantwortung - sich gut zu informieren - nicht wahrnehmen, müssen alle unter schlechter Politik und ihren Folgen leiden.
Das muss man korrigieren, aber auch dafür ist rationales Denken, historisches Denken eine ungeheuer interessante Option und die versuchen wir in einem neuen Buch für den Club of Rome, aufzublättern: Zu zeigen wir lassen uns doch nicht von verfehlten Ökonomien - die tatsächlich kurzfristig geworden sind - auf den Leim fühlen.“
Obrecht: „Ich möchte noch einmal zurückkommen zu den internationalen Agenden, Bezug nehmen auf die Nachhaltigkeit und bin bei der weltweiten Staatengemeinschaft der UN Generalversammlung. Die letzten beiden große Entwürfe waren einerseits die Verabschiedung der nachhaltigen Entwicklungsziele[23] im September 2015 und daran anschließenden die Weltklimakonferenz in Paris mit dem Ziel die atmosphärische Erwärmung auf wesentlich unter 2 Grad Celsius zu reduzieren. Die 17 nachhaltigen Entwicklungsziele mit den 169 Unterzielen die lesen sich teilweise wie ein Brief an das Christkind, sehr schön aber teilweise natürlich sehr weit weg von der sogenannten Realität und bei den Klimazielen wissen wir schon – zwar regional unterschiedlich - aber das höchst wahrscheinlich diese Ziele nicht einhaltbar sind. Für Österreich wissen wir es ganz konkret, weil wir da schon viel größere Temperaturschwankungen haben in den letzten Jahrzenten der Aufzeichnung. Jetzt ist beiden Bemühungen - den SDG´s, den nachhaltigen Entwicklungszielen und den Klimazielen gemein, das keine völkerrechtlich verbindlichen Sanktionen damit verbunden sind, wie es bei anderen Regelungen z.B. Kyoto der Fall war. Ist das nicht das wesentliche Manko, woran diese Regelungen wohlmöglich scheitern können, dass es gar kein Reglement mehr gibt, das auch in einem rechtlichen Sinn international eingreifen kann und zur Verwirklichung aufrufen kann. Ist das nicht das zentrale Problem - diese sogenannte Freiwilligkeit?“
Weizsäcker: „Es ist seit Ronald Regan in den 1980er Jahren der politische Grundsatz der Amerikaner keinerlei Verpflichtungen - verbindliche Verpflichtungen - auf Weltebene mehr zu akzeptieren. „It is not in the american interest“ und das sagen sie dann in Konferenzen und damit ist die Diskussion am Ende. Der Rest sind dann freiwillige Vereinbarungen, an die sich die Amerikaner auch nicht halten, aber das reichste, stärkste, militärisch gefährlichste Land der Erde, weigert sich irgendeinen globalen Konsens herbeizuführen. Das ist schon lange vor Trump so gewesen, aber hat sich durch Trump dramatisch verschlimmert. Sein Ausstieg aus den eigenen Verpflichtungen von Paris und der Nachhaltigkeitsagenda 2030, das sind skandalöse Tatsachen, einseitig von einem Land gegen den Rest der Welt verkündet und durchgesetzt. Schweinerei aller erster Güte.“
[24] Die zehnte elementare Wahrheit ist, dass Regeln nur dann wirksam sind, wenn ihre Einhaltung auch eingefordert (erzwungen) werden kann. Wir sehen dieses Problem in der Politik der EU häufig. Ein Vertragsverletzungsverfahren wegen Verstößen gegen EU-Regeln kann nur dann erfolgen, wenn alle 27 zustimmen – und es gibt immer ein Land, das sich querlegt. Entscheidungen des europäischen Gerichtshofes werden von einigen Ländern einfach ignoriert.
Obrecht: „Aber man hat das Gefühl, die Weltgemeinschaft kann diesem Unilateralismus[25] nichts entgegenhalten.“
Weizsäcker: „Vorläufig nicht. Man muss dafür sorgen das diejenigen, die an Kooperation und Zusammenarbeit zwischen den Ländern arbeiten, dabei auch ökonomisch die Gewinner sind. Das ist eine große Aufgabe insbesondere für Europa. Europa schlecht zu reden nur weil es den blöden Herrn Trump gibt, ist die falscheste Maßnahme, die wir uns vorstellen können. Der Trump hasst ja Europa, macht alles um zu versuchen die Legitimität und Funktionsfähigkeit von Europa zu vernichten. Der ist unser Gegner und nicht unser Vorbild.“
Obrecht: „Das heißt wenn Sie sagen Zusammenarbeit, dass wir eine neue Allianz - sowohl ökonomisch als auch ökologisch – sei es jetzt mit Ostasien, mit China, mit Japan – brauchen. Ist das eine Alternative auch jetzt in Bezug vor allem auf die nachhaltigen Entwicklungsziele und auf die Lösung der ökologischen Probleme?
Weizsäcker: „Das eine sind natürlich die nachhaltigen Entwicklungsziele, die sind in sich widersprüchlich. Das ist ein Problem!“
Obrecht: „Aber sie lassen sich wahrscheinlich nicht von der ökonomischen Zusammenarbeit trennen?“
Weizsäcker: „Kaum, aber die ersten 11 der 17 nachhaltigen Entwicklungsziele sind gigantische ökonomische Wachstumsprogramme. Überwindung der Arbeitslosigkeit: Nach den Berechnungen der Internationalen Arbeitsorganisation fehlen uns eine Milliarde Arbeitsplätze, und wenn wir die auf konventionelle Weise herstellen würden, dann müssten wir eine Verdreifachung in der Weltökonomie hinkriegen. Und dann gibt es die fröhlichen Ziele 13, 14, 15 - Klima, Ozean und Biodiversität - und die wären restlos im Eimer, wenn sich diese ersten 11 Ziele rein ökonomisch durchsetzen würden. Also das ist ein Problem in diesem wunderbaren Märchenbuch nachhaltige Ent-wicklungsziele. Was ganz anderes ist die Frage der Kooperation oder Zusammenarbeit. Dazu gestatte ich mir noch einmal auf das neue Buch des Club of Rome mit dem Titel: “Wir sind dran“ zu verweisen. Weil wir genau dieser Frage nachgegangen sind. Was kann denn die Weltgesellschaft machen, wenn es einzelne Leute gibt, einzelne Nationen, die einfach nicht mitmachen wollen. Da haben wir von einem Hamburger Wissenschaftler Gerhard Knies - ist leider inzwischen gestorben - eine Idee übernommen und dargestellt. Die Aussage: „Jedes Land müsse ein Zusammenarbeitsministerium einrichten, dessen ausschließliche Aufgabe ist, Themen zu formulieren, die dem eigenen Land massiv nützen und gleichzeitig möglichst vielen anderen Ländern auch. Und in gewissem Sinne ist die Europäische Union genau so eine Zusammenarbeitsgemeinschaft.[26] Es hat - soviel ich es beurteilen kann - allen Beitrittsländern massiv genützt Mitglied zu werden. Gejammert wird immer nur über die einzelnen kleinen Facetten, wo bestimmte Ideen z.B. von Ungarn oder Polen oder von Großbritannien nicht ganz erfüllt worden sind. Und daraus resultiert dann eine idiotische Prügelei auf die EU. Als ob die Schuld daran sei, dass nicht alles sonnig und rossig ist.“
Obrecht: „Ist nicht ein großes Problem die Komplexität der weltweiten Vernetzung von Problemen? Sie sind Wissenschaftler der Humanökologie. Die Humanökologie ist einfach entstanden, um diese enorm komplexen Zusammenhänge zwischen natürlichen Lebensräumen und menschlicher Lebensweise zu ergründen, zu beschreiben, zu verdichten, zu analysieren. Jetzt hören wir ständig über Probleme, von denen wir wissen - ich nenne das Beispiel Klimawandel - aber können wir uns das tatsächlich vorstellen was da passiert und auf uns zukommt?“
Weizsäcker: „Es gibt inzwischen gute, anschauliche Modelle über das. Das ist zwar komplex, aber lässt sich so einfach darstellen, dass es eigentlich jeder verstehen müsste - außer dem amerikanischen Präsidenten, der schaut da einfach nicht hin.
[27] Die elfte elementare Wahrheit ist, dass man heute schon so viel über den Klimawandel, seine Ursachen, seine Folgen und wie diese vermieden werden könnten weiß, dass es in der Wissenschaft darüber keine grundsätzlichen Zweifel mehr gibt. In guten Medien wird auch bereits viel darüber berichtet. Dass die Politik zu wenig dagegen unternimmt, ist ebenso klar (Wirtschaftswachstum um jeden Preis, mangelnde internationale Zusammenarbeit, kurzfristige Denkweise, etc.). Folglich können nur wir Bürger die Politik dazu bringen: Entweder bei Wahlen Parteien wählen, die die Probleme wirklich anpacken wollen oder zwischen Wahlen, indem wir uns bemerkbar machen (Proteste, Petitionen, unser Mitmenschen von der Dringlichkeit überzeugen, etc.). Wenn wir uns nicht informieren und wegsehen, werden wir trotzdem alle mit den Folgen leben müssen (leider nicht mehr wir, sondern die nächsten Generationen).
Die Bedrohungsszenarien sind naturgemäß strittig. Ein Beispiel: Das kenn ich nur zufällig aus Russland, da sagt jemand, der in Sibirien wohnt, es wäre ja wunderbar, wenn es endlich ein bisschen wärmer würde. Kein Wunder. Während man in Italien, über genau das gleiche Phänomen der Erwärmung, schrecklich jammert. Also da gibt es geografische Unterschiede und infolgedessen auch politischen Streit. Aber inzwischen ist doch die internationale Gemeinschaft der Klimaforscher sehr weit im Konsens, einschließlich - das ist ein relativ neues Phänomen - das es unter Umständen bruchartige, gefährliche Veränderungen geben könnte.[28] So ist z.B. inzwischen geologisch bekannt, dass vor 7800 Jahren der Meeresspiegel ungefähr 7 Meter niedriger war, als heute und vor 7700 Jahren war er fast so hoch wie heute. Da muss also innerhalb eines Jahrhunderts, vielleicht auch innerhalb von 2 Wochen eine gigantische Eiszusammenbruchtragödie passiert sein.[29] Und man weiß inzwischen wo. In dem Gebiet das wir heute Labrador und die Hudson-Bay nennen. Das war vor 7800 Jahren noch bedeckt von einer Eismasse, so groß wie das Grönlandeis. Und 7700 vor heute war es weg. Es muss also einen Riss bekommen haben, oder viele Risse und ins Meer gerutscht sein. Das ist nicht von oben nach unten abgeschmolzen - das hätte 1000 Jahre gedauert, oder 2000 - sondern es ist mechanische instabil geworden. Und wenn man sich vorstellt, etwas Ähnliches passiert auf der Westantarktischen Eisplatte, ein ähnlicher Eisverlust, oder in Grönland und dann überlegt, wie sieht das dann aus für Hamburg oder Amsterdam oder Kopenhagen oder Helsinki oder Stockholm oder London oder ganz Bangladesch oder Florida oder praktisch die ganzen Küstenstädte in Asien, wo heute die große Wirtschaftsblüte ist. Was passiert denn, wenn plötzlich der Meeresspiegel um 7 Meter ansteigt?
[30] Die zwölfte elementare Wahrheit ist, dass die Kipp-Punkte keine Erfindung von Verschwörungstheoretikern sind sondern mehrfach in der Erdgeschichte überschritten wurden, gut erforscht sind und radikale Klimaänderungen bewirkt haben. Der Unterschied zu früher ist, dass diesmal der Mensch und nicht Naturkatastrophen das Klima zu Kipp-Punkten treibt und das mit enormer Geschwindigkeit.
Eine reine Katastrophe. Das heißt also man fängt an, das Drama der Klimaveränderung konkret auszumalen und zu sagen, dass was in Paris 2015 beschlossen worden ist, ist bei Weitem nicht genug, um einigermaßen Sicherheit herzustellen, dass solche Katastrophen nicht passieren.“
Obrecht: „Ernst Ullrich von Weizsäcker, Sie habe gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen 2017, Sie haben es schon erwähnt, abermals einen Bericht an den Club of Rome vorgelegt. Und dieser Bericht titelt: „Wir sind dran, was wir ändern müssen, wenn wir bleiben wollen.“ Und auf 380 Seiten werden von Ihnen auch Schlüsselkriterien aufgezeigt, die zu einer sozialökologischen Transformation führen, oder führen können. Wobei der Teil 2 für mich besonders spannend war, weil der geht, über die technischen und statistischen Beschreibungen insofern hinaus, als dass er sich Gedanken macht über das, was in diesem Teil die neue Aufklärung genannt wird. Und diese neue Aufklärung so wird argumentiert, wird deswegen notwendig, weil wir nicht mehr in der leeren Welt leben. Die Welt ist mittlerweile voll geworden ist. Wie hängen diese beide Begriffe zusammen? Neue Aufklärung einerseits und leere bzw. volle Welt auf der anderen Seite.“
Weizsäcker: „Zunächst einmal: Das Buch hat drei Teile, der erste Teil ist eine schonungslose Darstellung davon, dass die heutigen Trends alles andere als nachhaltig sind. Trotz aller Beschwörungen von Nachhaltigkeit in sämtlichen Industrieberichten und in den Verlautbarungen der Regierung und was es sonst noch so alles gibt. Es ist nicht wahr! Die heutigen Trends sind zerstörerisch, und zwar ganz massiv. Und dann kommen wir zu der Erkenntnis, dass es wahrscheinlich an einer tiefen philosophischen Krise liegt, in der wir allesamt stecken. Und dazu will ich ein Beispiel bringen. Da sitzen also im Jahr 2015 die Länder der Welt zusammen und reden über das Klima und machen hochheilige Selbstverpflichtungen und dann kommen diese Verpflichtungen in den Hauptstädten der betreffenden Delegationen wieder an. Wie reagiert man in der Hauptstadt? Da sagt man, oh ja wir müssen dringend etwas mehr fürs Klima tun, aber das wird wahnsinnig teuer, da brauchen wir viel mehr Wachstum. Das ist die einzige Reaktion in sämtlichen Hauptstädten der Welt! Das heißt also, wir sind gute – medizinisch gesprochen - Diagnoseärzte. Wir wissen da gibt es das große Klimaproblem, aber wir sind idiotische Therapieärzte. Als Therapie gegen die Krankheit globale Erwärmung, schlagen wir noch mehr Wachstum mit der Folge von noch mehr Erwärmung vor. Ja das heißt wir sind in unserer gedanklichen und seelischen Verfasstheit krank. Und dann sagen wir, ja also mit der heutigen Denke scheinen wir die Probleme ja nicht einmal richtig zu identifizieren, jedenfalls nicht zu lösen. Und dann nehmen wir die großartige päpstliche Enzyklika „laudato si“ von Papst Franziskus, in der er auch betont, dass eine auf Selbstsucht, Geiz, Kurzfristigkeit, Naturvergessenheit usw. basierende Zivilisation ein Selbstmordprogramm ist, dem man nur durch eine fundamentale Umorientierung des Denkens Herr werden könnte.“
Obrecht: „Diese Umorientierung, könnte etwas mit Rationalität zu tun haben.“
Weizsäcker: „Ja!“
Obrecht: „Die erste Aufklärung reicht nicht. Offenbar reicht sie nicht, dass wir auch gute Therapeuten werden. Warum reicht sie nicht - diese ich nenne sie jetzt salopp erste Rationalität?“
Weizsäcker: „Ja, die erste Aufklärung war großartig, eine Befreiung von mittelalterlichen Denkfiguren, der Verkrustung, der Verdummung und Abhängigkeit vom Feudalismus und sie hatte eine wichtige Komponente. Und zwar den Utilitarismus[31] im angelsächsischen Raum. Es muss alles nach Nützlichkeit gestrickt werden. Und das ist ja ein Teil dessen, was ich vorhin gesagt habe. Wenn man die Klimapolitik utilitaristisch betrachtet, kommt immer das falsche Resultat heraus. Wir sagen aber, man kann sehr wohl durch eine richtige Interpretation der großen Koryphäen der Ökonomie wie Adam Smith oder David Ricardo zu einer neuen Denkweise kommen, die wir dann als neue Aufklärung apostrophieren, bei welcher man in einem umfänglicheren, weniger spezialisierten Sinne, die Ratio walten lässt. Aber gleichzeitig immer auch nach Balance sucht. Also reine Nützlichkeit ist vielleicht kurzfristig gut aber langfristig idiotisch.“
Obrecht: „Ratio und Balance! Balance zu was? Zu Gefühl, zu Emotion, zu Kreativität, zu Assoziation zu dem, was im Buddhismus als Ganzheit bezeichnet wird?“
Weizsäcker: „Wir diagnostizieren, dass die westliche Kultur im Wesentlichen auf einer nationalistischen, utilitaristischen Rechthaberei basiert. Und dem gegenüber sagen wir, dass in den östlichen Zivilisationen Balance etwas Selbstverständliches ist. Eine Rechthaberei im Westen toleriert nicht, dass das Gegenteil von dem, was sie gerade aussagt, vielleicht auch ein Stück Wahrheit enthält. Also wenn wir im Westen von irgendeinem Streit hören, einem politischen Streit z.B., ist unsere automatische Reaktion „Naja, der eine hat recht und der andere hat unrecht und Wahrheitssuche besteht darin, dass der der recht hat, den besiegt der unrecht hat und damit kommen wir der Wahrheit näher“. Wenn man exakt den gleichen Streit einem Inder oder Japaner oder Chinesen vorlegt, ist seine erste Reaktion „Naja, ihr habt doch beide recht“. Ja und sie haben meistens recht mit dieser Aussage und das heißt also, das Anerkennen, dass zwei einander scheinbar widersprechende Dinge beide ein Stück Wahrheit enthalten können. Das scheint uns ein Kernbestanteil einer neuen Aufklärung zu sein. Die ist nicht antirational, sondern balanciert-rational.“
[32] Die dreizehnte elementare Wahrheit ist, dass genau dies – der Kompromiss - das Wesen der Demokratie ist. Kompromiss in einem Sinne von Interessenausgleich. Kompromiss hat im letzten Jahrzehnt eine negative Bedeutung bekommen – teilweise zu Recht. In einer globalisierten Welt wird man globalisierte Probleme – wie z.B. den Klimawandel mit Konfrontation aber nicht lösen können.
Obrecht: „Die erste Aufklärung hat also zu einem polarisierenden Denken - insbesondere in ihrer Verbindung zum Utilitarismus - geführt. Und sie argumentieren auch in Teil zwei des Buches, dass eben die erste Aufklärung ein Konzept der leeren Welt war, weil die volle Welt diese Form der Rationalität nicht mehr verträgt. Was hat es mit diesem Bild von der leeren und der vollen Welt in Bezug auf unsere Denke, wie Sie vorhin gesagt haben und auf die Veränderung unsere Welt auf sich?“
Weizsäcker: „Im 18. Jahrhundert zur Zeit von Immanuel Kant, hatten wir eine leere Welt. Weniger als 1 Milliarde Menschen auf der Erde und eine unermesslich große Natur. Und heute haben wir 7,6 Milliarden Menschen und die Natur ist überhaupt nicht gewachsen. Im Gegenteil sie ist kaputt geschrumpft. Das ist die volle Welt! Und Herman Daly von der Weltbank - der das Gegensatzpaar leere-volle Welt formuliert hat sagt, wenn du in der leeren Welt mehr Fische haben wolltest, ja was machst du? Mehr Netze, mehr Angeln, mehr Fische - ja dann hast du mehr Fische. Ganz einfach. Aber in der vollen Welt gilt was völlig anderes. Das Wichtigste, was du machen musst, sind Fischereiverbotszonen, sonst ruiniert man den Rest der Fischbestände. Ja, also fast das Gegenteil von dem, was in der leeren Welt gegolten hat, muss in der vollen Welt gelten, damit man das gleiche Ziel, nämlich mehr Fische, auch erreichen kann. Es ist ein Beispiel, man kann Hunderte Beispiele nennen, wo selbstverständliche Instinkte, Denkweisen aus der leeren Welt für die volle Welt gar nicht mehr richtig sind. Ich sage jetzt deutlich mal Instinkte, auch alle unsere menschlichen Instinkte stammen aus der leeren Welt. Z.B. auch Ellbogengesellschaft stammt alles aus der leeren Welt und in der vollen Welt da stößt man sich ja ständig an, wenn man nicht endlich Zusammenarbeit lernt. Oder in der leeren Welt sind alle unsere Religionen entstanden.“
Obrecht: „Macht euch die Erde untertan, ist eine biblische Aufforderung, aus der leeren Welt“
Weizsäcker:[33] „Genau, und Ähnliches kann man in anderen Religionen sehen und in der vollen Welt muss man da neu denken. Und in der leeren Welt sind sämtliche Sprachen, sämtliche Grammatiken entstanden. In der heutigen vollen Welt muss man unter Umständen neu sprechen lernen. Das kann auch wieder hundert Jahre dauern wie die alte Aufklärung aus dem 18. Jahrhundert. Und dann sagen wir, wir können jetzt nicht hundert Jahre Däumchen drehen und an eine neue Aufklärung denken. Sondern wir müssen auch heute schon handeln, und zwar in eine Richtung, die dann für die volle Welt geeignet ist und den Frieden einigermaßen sichert. Das ist mit den heutigen politischen Rezepten kaum zu erreichen.“
Obrecht: „Aber Sie sind zuversichtlich, dass diese neue Denkweise letzten Endes in einem transformativen Sinn realisiert wird, oder könnte es schon so sein, dass wir vor Systembedingungen stehen, die wir mit unserem Denken letztlich nicht mehr bewältigen können. Weil wir zu spät kommen, weil die Veränderung des Systems zu schnell erfolgt ist.“
Weizsäcker: „Dieses ist leider das wahrscheinlichere Szenario. Menschen - das ist auch aus der leeren Welt - lernen eigentlich erst aus Katastrophen. Das ist eine riesige Tragödie. Der wesentliche Teil der Wissenschaft, wie der Club of Rome sie betreibt, ist sichtbar und fühlbar zu machen was zur Katastrophe führen würde, lange bevor die Katastrophe eingetreten ist. Damit man rechtzeitig Gegenrezepte entwickelt und populär macht und sie nicht von Kurzfrist-Populisten kaputt schwatzen lässt. Und nun - weil wir optimistisch an das Problem herangehen und weil wir nicht hundert Jahre warten können, bis sich eine großartige neue Aufklärung durchgesetzt hat - ist dann fast die Hälfte des Buches „Wir sind dran“ der pragmatischen Politik für heute gewidmet. Über die Energiewende, einen geeigneten Klimaschutz, eine Ressourcen-Produktivität, eine Veränderung der Rahmenbedingungen, dass Naturzerstörung zu teuer wird und Naturwiederherrichtung lukrativ wird oder dann die vorhin genannte Zusammenarbeit zwischen den Staaten. Das sind alleine also fast 200 Seiten, wie man die heutige Politik so umformulieren kann, dass dabei die Schäden weitgehend vermieden und der Nutzen wirklich vermehrt wird.“[34]
Obrecht: „Wir begreifen oft nicht, was wir uns selbst Wert seien sollen.“
Weizsäcker: „Das Buch „Wir sind dran“ ist ja ein schillernder Titel. Das hat ganz verschiedene Bedeutungen. Das heißt erstens - wir sind an der Reihe, wir müssen jetzt was tun und zweitens - wenn wir es schlecht machen, dann sind wir dran. Das heißt sozusagen beim Henker. Und auf Englisch - das Buch ist ja ursprünglich in Englisch geschrieben - heißt es „Come on“. „Come on“ heißt erst mal im Umgangssprachlichen, „Ach komm tut doch nicht so“, „sei doch nicht so blöd“. Das sind die ersten beiden Teile des Buches. „Come on, don’t tell me the current trends are sustainable“. Die heutigen Trends sind überhaupt nicht nachhaltig. Das zweite „Come on“ bedeutet „bleib doch nicht bei ausgedienten Philosophien stehen“,“hab den Mut dich auf einen neuen Pfad zu begeben“. Der dritte Teil heißt dann “Come on, join us on an exiting journey to a sustainable world”. „Freu dich doch mit uns zusammen auf den Weg einer aufregenden Reise“. Also dieser Titel ist ganz bewusst schillernd gemeint. Damit die Leute ins Nachdenken kommen und merken sie werden nicht belehrt, sondern sie werden aufgefordert, selber zu denken.“
Ende des Interviews[35]
Dieser Artikel ist möglicherweise der Letzte den wir in diesem Jahr veröffentlichen. Er ist lange – aber vielleicht haben Sie in der Zeit um den Jahreswechsel Gelegenheit über diese Themen nachzudenken. Vielleicht kaufen oder verschenken Sie auch das Buch[36] „Wir sind dran“. Auf jeden Fall freuen wir uns, wenn Sie uns auch in 2019 begleiten, beim Versuch der Zukunft zu helfen – sie hat diese Hilfe dringend nötig!
Bleiben Sie dran – hören Sie nicht auf zu lesen!
Danke für Ihre Aufmerksamkeit!
© Peter Jöchle 2018
[1] Die Informationen über Ernst Ulrich von Weizsäcker sind aus Wikipedia: Ernst Ulrich von Weizsäcker
[2] Die Informationen über Carl Friedrich von Weizsäcker sind aus Wikipedia: Carl Friedrich von Weizsäcker
[3] Die Informationen über Richard von Weizsäcker sind aus Wikipedia: Richard von Weizsäcker
[4] Die Informationen über Carl Christian von Weizsäcker sind aus Wikipedia: Carl Christian von Weizsäcker
[5] 1976 wurde das Institut für Europäische Umweltpolitik (IEUP) in Bonn gegründet mit dem Ziel, die Umweltpolitik in der Europäischen Union (EU) voranzutreiben. Das IEUP baute ein Netzwerk ähnlicher Institute in verschiedenen EU-Mitgliedsstaaten auf. 1995 wurde das IEUP in Bonn aufgelöst und als Nachfolgerin wurde das Ecologic Institut in Berlin gegründet. Aus dem IEUP von 1976 entstand auf europäischer Ebene das Institute for European Environmental Policy (IEEP), das seinen Sitz in Brüssel hat und das Netzwerk nationaler Institute koordiniert. Mehr über das IEUP erfahren sie hier: IEUP. Das Institute for European Environmental Policy hat enorm viel Material zu den Themen Klimawandel und darüber hinaus zu den Sustainable Development Goals – sehr lesenswert (in Englisch).
[6] Wikipedia: „Das Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie ist eine private, gemeinnützige Forschungseinrichtung. Es erforscht und entwickelt Leitbilder, Strategien und Instrumente für Übergänge zu einer nachhaltigen Entwicklung auf regionaler, nationaler und internationaler Ebene. Im Zentrum stehen Ressourcen-, Klima- und Energie-Herausforderungen in ihren Wechselwirkungen mit Wirtschaft und Gesellschaft.“ Wuppertal Institut
[7] Die international Website des Club of Rome: Club of Rome
[8] In Anlehnung an: Wikipedia - Club of Rome
[9] Hier finden Sie einen Überblick über alle Berichte des Club of Rome.
[10] Der Club of Rome hat seine Zentrale in der Schweiz. Wenn Sie den Club of Rome kennen lernen wollen, müssen Sie aber nicht in die Schweiz fahren. Der Club of Rome hat in Österreich eine Zweigstelle: Club of Rome - Austrian Chapter
[11] Quellenangabe für das Interview: Sendung „Im Gespräch“: "Was wir uns selbst wert sein müssen, wenn wir weiterleben wollen" - Andreas Obrecht im Gespräch mit Ernst Ulrich von Weizsäcker, Wissenschaftler, Umweltaktivist und Politiker. ORF/Radiosender Ö1; ausgestrahlt am 4.10.2018. Sowohl vom ORF als auch von Ernst Ulrich von Weizsäcker persönlich haben wir die Rechte für die Transkription, als auch die Veröffentlichung erhalten. Die Transkription hat Future Aid durchgeführt.
[12] Wir haben den Mittelteil in dem von Weizsäcker über sein Privatleben spricht weggelassen. Future Aid will, dass alle Menschen unsere Texte verstehen. Daher haben wir einige wenige Vereinfachungen in der Sprache vorgenommen (z.B. haben wir das Wort Kohabitation durch Zusammenarbeit ersetzt).
[17] Der Reboundeffekt ist eines der größten Probleme beim Klimaschutz und der Nachhaltigkeit. Vereinfacht besagt er Folgendes: Wenn wir Güter mit weniger Ressourcenverbrauch und weniger Energieverbrauch herstellen, dann werden diese beim Kauf und in der Nutzung billiger. Das gesparte Geld geben wird dann für andere Produkte aus, die wir uns bisher nicht kaufen konnten. Deren Kauf und Nutzung „frisst“ die ursprüngliche Einsparung zum Teil wieder auf. Mehr zu diesem Thema bei Wikipedia: Rebound-Effekt (Ökonomie)
[23] Hier wird über die Sustainable Development Goals gesprochen. Future Aid hat darüber ausführlich in den Future Aid News 6 geschrieben. Die Future Aid News finden Sie zum Nachlesen hier. Future Aid ist auch Mitglied von SDG Watch Austria.
[25] Unilateralismus bedeutet nach Wikipedia: „In der Politik versteht man darunter das Handeln eines Staates im eigenen Interesse ohne Rücksicht auf die Interessen anderer.“
[26] Von den drei großen Wirtschaftsblöcken der Welt gehen die USA derzeit auf Konfrontation und kündigt Zusammenarbeit einseitig auf. China ist ein autoritär geführter Staat, in dem keine Opposition geduldet wird. Europa war bisher das einzige Beispiel für gelebte Zusammenarbeit zwischen souveränen Staaten, die allen Vorteile gebracht hat. Wir sollten bei den kommenden EU-Wahlen im Mai 2019 daran denken ob wir Parteien wählen die die EU stärken wollen oder solche die sie schwächen wollen.
[28] Weizsäcker spricht hier die Kipp-Punkte im Weltklimasystem an. Wenn solche Kipp-Punkte überschritten werden, dann gerät die Situation außer Kontrolle. In Artikel 9 - Wo sind die Grenzen? Hat Future Aid bereits über die Kipp-Punkte geschrieben. Auch in unserer Mediensammlung finden Sie einen Kurier-Artikel zu den Kipp-Punkten: Kippendes Klimasystem: Warum eine Heißzeit droht
[29] Was Weizsäcker hier anspricht, ist der durch Erwärmung verursachte Abfluss des prähistorischen Agassizsees über die Hudson Bay in den Atlantik. Siehe Wikipedia: Agassizsee. Dieser plötzliche Abfluss riesiger Süßwassermengen in den Atlantik führte zu der sogenannten Misox-Schwankung einer plötzlichen Veränderung des Klimas auf der Nordhalbkugel. Diese entstand dadurch dass der Golfstrom, der warmes Wasser nach Europa transportiert, unterbrochen wurde. In Europa wurde es um 2 Grad kälter, während es auf der arabischen Halbinsel zu Wüstenbildung kam. Weizsäcker spricht hier aber nicht von der Erderwärmung sondern vom Meeresspiegelanstieg, der durch den Abfluss des Agassizsees verursacht wurde. Wikipedia: Misox-Schwankung
[31] Utilitarismus ist eine zweckorientierte Ethik, die in den entwickelten Industriestaaten vorherrschend ist und die Politik, Wirtschaft und Gesellschaft stark geprägt hat. Mehr dazu in Wikipedia: Utilitarismus. Utilitarismus ist stark auf Nutzen ausgerichtet. „Was nützlich ist, ist gut“. Weizsäcker ist hier nicht gegen Nützlichkeit, sondern dagegen, dass die heutigen Lösungen häufig nur kurzfristig Nutzen bringen aber langfristig Schaden verursachen.
[33] Die erste Kernaussage in diesem Teil des Interviews ist dass sich der Planet nicht an uns Menschen anpassen wird, sondern wir uns an diesen Planeten und seine Möglichkeiten anpassen müssen. Mit einem „immer mehr“ ist dies nicht möglich. Die zweite Kernaussage hier ist, dass wir eigentlich ein neues Denken entwickeln müssten, aber nicht hundert Jahre darauf warten können, weil wir nicht mehr so viel Zeit haben.
[34] Das Buch „Wir sind dran“ zeigt tatsächlich auf fast 200 Seiten, welche Möglichkeiten es gibt, die Entwicklung in die richtige Richtung zu lenken. Wie wir schon oben geschrieben haben: Nichts muss erst erfunden werden - nur muss endlich gehandelt werden! Und wenn die Politik dies nicht selber erkennt, müssen wir die Politik dazu bringen!
[35] Das Interview wurde transkribiert von Frank Labunski einem Mitarbeiter von Future Aid der vier Monate lang ein Praktikum bei Future Aid absolviert und seine Bachelorarbeit über Nachhaltigkeit schreibt.
[36] Ernst Ulrich von Weizsäcker, Anders Wijkman u.a. (2017): Wir sind dran – Was wir ändern müssen, wenn wir bleiben wollen – Eine neue Aufklärung für eine volle Welt; Gütersloher Verlagshaus; € 25,70.